Die Krähe
In einem einsam gelegenen Häuschen lebt eine ältere Frau. Sie wandelt etwas gebückt durch die Welt, ständige Hexenschüsse gehören zu ihrem Alltag. Sie hat zwei Gehstöcke, die sie immer mit sich trägt, und nun neue Barfußschuhe, die vielleicht das Gehen etwas erleichtern könnten. Gesund scheint diese Frau nicht zu sein, aber sie atmet und lebt.
Auf ihrer Schulter hockt eine schwarze, ausgewachsene Krähe, die immer wieder etwas in das Ohr dieser Frau zu flüstern scheint. Doch um was für Worte es sich handelt, das ist nicht vernehmbar.
Weitere Tiere laufen um diese Frau herum. Katzen streichen um ihre Beine, sie warten oft auf Futter oder darauf, gestreichelt zu werden. Ein Hund liegt gemütlich auf seinem Hundeplatz, der wie ein Bett wirkt, nur kleiner und hundegerecht. Eine Ziege frisst in dem kleinen Garten Gras, und ein Schwein grunzt der Frau durch das offene Fenster zu. Das Schwein mag diese Frau besonders gern, wie auch die Krähe auf ihrer Schulter. Nein, es stimmt nicht, sie mag fast alle Tiere gerne, und diese Frau rettet selbst Regenwürmer, die auf der Straße liegen oder setzt Schnecken zur Seite wie auch Kröten, damit diese nicht überfahren werden. Aber Mücken hat diese tierliebe Frau schon erschlagen und Zecken zerquetscht. Das scheint merkwürdig zu sein, da auch diese Tiere eine Lebensberechtigung haben und ja nichts für ihr Sein können. Vielleicht ist es auch Selbstschutz, denn so gut findet die Frau Mückenstiche nicht, und noch weniger mag sie festgebissene Zecken am Körper haben.
Es steht ein Schaukelstuhl im grünen wilden Garten, und die Hummeln und Bienen summen und die Grillen zirpen.
Mit der Krähe unterhalte ich mich. Sie versteht mich, denn sie ist wie ein Teil von mir. Diese ist schlau, neugierig, offen, wissbegierig und frei.
Die Krähe kommt zu mir, wenn sie möchte, und fliegt weg, wenn ihr danach ist. Dann aber bleibe ich wie starr zurück, denn es fehlt ja ein Teil, der die Freiheit in sich trägt. Und so hocke ich da und warte. Warten nimmt einen Großteil in meinem Leben ein. Und die Zeit zerrinnt und scheint das Leben ungelebt zu vertilgen.
Manchmal, da schafft es ein Einhorn, zu mir in den verwilderten Garten vorzudringen, der irgendwie wie verwunschen wirkt. Das Tier trägt dann einen lieben Menschen auf seinem Rücken zu mir, direkt in mein verhärtetes Herz. In diesen seltenen Momenten lachen dieser Mensch und ich und freuen uns, und es gibt einen Augenblick des Miteinanders. Es können auch mehrere Einhörner in mein Reich vordringen, doch mehrere kommen noch seltener als ein einziges.
Bald aber verschwindet das Einhorn so schnell, wie es kam, und mit ihm alle Gefühle der Freude, der Lebendigkeit und der Gemeinsamkeit mit Menschen.
Dann bin ich wieder in meinem Reich gefangen. Ich grolle, hocke wie gelähmt da, denn nun ist auch die Freiheitskrähe weggeflogen, und der Garten, der grün und bunt schien, ist wieder grauschwarz und unheimlich. Es scheint etwas zu geben wie eine dunkle Macht, die mich im Stuhl niederdrückt und mich der Welt noch mehr entrückt, selbst dieser Garten wirkt nun unheimlich, der mir oft Sicherheit trotz der Einsamkeit bietet.
Und ich rufe laut: „Hallo, wo bist du, Krähe?!“ „Wo seid ihr Einhörner mit den Wesen, die mein Herz öffnen und mich lachen lassen?“
Doch es kommt keine Antwort.
Ich rufe noch lauter: „Hallo, wo seid ihr alle?“
Doch nichts erklingt.
Plötzlich erscheint die Krähe, sie kommt angeflogen, setzt sich auf meine rechte Schulter, und ich freue mich, weil ich denke, nun ist die Freiheit wieder da. Ich atme tief ein und hoffe auf ein besseres Gefühl, da hackt die Krähe mir plötzlich ein Auge aus. Der Schmerz ist unerträglich, doch ich kann nicht weinen, und ich kann der Krähe nicht sagen, wie enttäuscht ich von ihr bin. Sie, die mir immer ein Freiheitsgefühl brachte, hat mir ein Auge ausgehackt.
Noch immer hockt die Krähe auf meiner Schulter. Ich versuche mit ihr zu reden, ich frage sie, warum sie das machte, doch ich bekomme keine Antwort.
So lerne ich, mit nur einem Auge zu leben. Aber der Krähe vertraue ich kaum noch. Die Freiheit scheint gänzlich verloren zu sein.
Eines Tages gelangt trotzdem Besuch, ein Einhorn mit Gast auf seinem Rücken, in meinen Garten. Die Zeit miteinander, auch einäugig, ist wunderbar. Und doch wundere ich mich, dass mein Gegenüber nicht zu bemerken scheint, dass ich nur noch mit einem Auge blicke. Das Einhorn verschwindet mit dem Gast aber schnell wieder, und ich bleibe noch immer einäugig zurück.
Bald kommt die Krähe wieder angeflogen, setzt sich auf meine nun ängstlich eingezogene Schulter nieder, und ehe ich mich versehe, hackt sie mir das linke Ohr ab. Wieder versuche ich sie zu fragen, warum sie mir nun auch noch ein Ohr nahm, doch ich bekomme keine Antwort.
Nur noch sehr selten kommt ein Einhorn mit einem Gast in mein Reich, aber ich merke, dass ich dann nicht mehr diese Freude darüber empfinde. Denn ich spüre, dass die Zeit mein Leben fraß, wie die Krähe mein Auge aushackte und ein Ohr entwendete.
So kommt irgendwann niemand mehr in meinen verwunschenen dunklen Garten, und mein Rufen verstummt. Ich mag nicht mehr rufen. Das Grün des Gartens scheint gänzlich verschwunden zu sein, das Grau hat auch mein Herz umhüllt. Es wachsen hohe, dichte, rankende Pflanzen um mein kleines, einsames Leben. Nicht ein Laut kann dieses nun noch durchdringen. Und selbst wenn ein Rufen von außen kommen sollte, kann ich es mit nur einem Ohr nicht mehr gut hören. Ich schaffe es nicht, diese Ranken zu durchschneiden oder sie zu erklimmen und zu überwinden und spüre, wie auch der Atem enger wird. Die Luft scheint mir genommen zu werden, mein Herz ist erstarrter als je zuvor.
Nichts in und an mir ist noch frei. Und die Krähe, die für mich Freiheit bedeutete, hat mich betrogen. Sie verletzte mich und ließ mich eingeschränkt, einsam und wie gefangen zurück.
Im Garten frisst die Ziege graues Gras, sie wirkt abgemagert. Das Schwein, das ich besonders mochte, liegt wie tot im Garten, keinen aufmunternden Schweineblick kann ich von dem Tier mit nur einem Auge erkennen. Die Katzen haben sich zurückgezogen, sie warten nicht mehr auf Futter, sie fangen nun Mäuse und leben ihr eigenes Leben. Nur der Hund scheint näher gerückt zu sein, er versucht mir Trost zu spenden, und ich erkenne, dass ich ihm zu wenig Bedeutung beimaß, als die Krähe noch nicht mein Auge und Ohr geraubt hatte, und Zeit noch nicht mein Leben gefressen hatte.
So rücke ich nahe zu dem Hund und denke, der Hund trägt zwar nicht wie die Krähe die Freiheit in sich, dafür aber scheint er meiner Seele gut zu tun, indem er mir Wärme durch seine Nähe gibt.
Doch dann, ich kann es nicht glauben, da beißt der Hund erst die rechte Hand ab, dann die linke Hand, der Hund, der so freundlich wirkte und mir Wärme gab, beißt auch noch beide Füße ab.
Nun bin ich irritiert. Ich kann nicht mehr all die Dinge tun, für die ich meine Hände bräuchte, ich kann nicht mehr stehen geschweige denn von der Stelle kommen, denn ich kann nicht mehr gehen.
So hocke ich mit nur einem Auge, einem Ohr, ohne Hände und Füße da und warte weiter. Die Freiheit und die Wärme scheinen ebenfalls verloren zu sein.
Doch dann, ich traue mich gar nicht einäugig genauer hinzuschauen, da sehe ich, wie die Krähe mein ausgehacktes Auge und das abgehackte Ohr in ihr Nest legt und sich darauf hockt, als ob sie brüten würde. Und dann kommt der Hund angelaufen und übergibt der Krähe meine Hände und Füße, und ich kann es nur schwer erkennen, aber es sieht so aus, als läge im Nest auch mein Herz! Durch wen und wann mir dieses gestohlen wurde, das weiß ich nicht.
Ich blicke wie ausgeleert und abgeschnitten zu der Krähe, die mir immer das Gefühl der Freiheit übermittelte, hinüber, und kann nicht erfassen, was da geschieht, denn ich bin ja leer, und ich kann nicht gut sehen und kaum hören, geschweige denn näher an das Geschehen heranrücken, noch meine Organe und Glieder zurückholen, und fühlen ist auch unmöglich, weil ich glaube, dass auch mein Herz fehlen könnte, und so schaue ich mit dem einen mir gebliebenen Auge mühsam zur brütenden Krähe hinüber. Was macht sie nur?
Die Krähe schaut zu mir und sagt: „Du, Hexe, die da im Schaukelstuhl hockt, du musst einfach nur …“ Doch was sie dann sagt, das kann ich nicht verstehen, weil die Bienen und Hummeln so laut summen, und die Ziege meckert, und das Schwein scheinbar doch noch lebt und grunzt, und der Hund bellt, und die Katzen miauen, und ein Flugzeug fliegt, und das trotz Coronazeiten.
So hocke ich weiter unfähig im Schaukelstuhl, ohne Wärme und ohne Freiheitsgefühl, und ohne meine Hände, Füße, mit nur einem Auge und nur einem Ohr und ohne jegliches Gefühl der Liebe.
Mir wird klar, ich habe ja noch ein Auge und kann noch etwas sehen, und ich habe auch noch ein Ohr und kann ein wenig hören. Vielleicht nicht die Dinge, die in dem Moment wichtig erscheinen. Aber wie kann ich ohne meine Hände leben, die immer so viel tun wollen? Und wie kann ich ohne meine Füße sein, die mich zumindest durch meinen Garten trugen? Und vor allen Dingen, wie kann ich ohne mein Herz leben, das doch die Liebe, auch die zu meinen Tieren, aufzeigte?
Plötzlich, da kommt die Krähe wieder angeflogen. Sie setzt sich auf meinen Kopf, hackt kurz, aber doch stark mit ihrem Schnabel einmal zu, so als ob sie auf sich aufmerksam machen wollte und mich dadurch aus der Starre erlösen wollte. Und tatsächlich, es gelingt ihr. Sie springt behände auf meine Schulter und „plopp“ setzt sie das von ihr ausgehackte und gebrütete Auge zurück. Ich schaue sie an und sehe die Krähe. Aber ebenso erkenne ich meine noch vorhandene Lebenszeit und sehe die Freiheit, die frisch gebrütet wie ein Jungbrunnen zu sein scheint für mich.
Die Krähe fliegt weg und kommt kurz darauf mit dem von ihr abgehackten Ohr wieder, und ganz schnell ist auch dieses wieder an seinem Platz. Ich höre nun das Gras wachsen und höre tief aus meiner Seele Worte an die Oberfläche kommen und höre natürlich auch deutlich mein Herz weinen. Doch wo es sich befindet, ob im Krähennest oder sonst wo, das höre ich nicht.
Wieder verlässt die Krähe mich kurz, und als sie zurückkommt, ist ihr Schnabel vollgestopft mit meinen Händen und Füßen, und versehentlich setzt die Krähe meine Hände an meine Beinstümpfe und meine Füße an meine Armstümpfe, doch das Versehen entdeckt die Krähe sofort und so kommt jedes Glied an seinen richtigen Platz.
Ich wedele mit meinen Armen und bewege die Hände und Füße und jeden Finger und Zeh einzeln. Dankbar streiche ich der Krähe über den Kopf. Dann springe ich selbst behände ohne die Gehhilfen, denn sie sind durch das Brüten überflüssig geworden, zum Krähennest hinüber. Ich bin auf der Suche nach meinem verloren geglaubten Herz. Doch es liegt nicht wider Erwarten im Nest. So sehr ich auch schaue, ich finde es nicht. Und so fragte ich die Krähe, warum sie mir alles wiedergegeben hat, nur mein Herz nicht.
Aber sie antwortete nicht. Die Krähe sitzt als Freiheitssymbol auf meiner Schulter und genießt die Wärme. Die anderen Tiere laufen um mich herum. Katzen streichen um meine Beine, sie warten oft auf Futter oder darauf, gestreichelt zu werden. Ein Hund liegt gemütlich auf seinem Hundeplatz, der wie ein Bett wirkt, nur kleiner und hundegerechter. Die Ziege frisst in dem kleinen Garten Gras, und das Schwein grunzt mir durch das Fenster zu. Das Schwein mag ich besonders gern, wie auch die Krähe auf meiner Schulter. Nein, es stimmt nicht, ich mag fast alle Tiere gerne und rette selbst Regenwürmer, die auf der Straße liegen oder setzte Schnecken zur Seite wie auch Kröten, damit diese nicht überfahren werden.
Und plötzlich entdecke ich, mein Herz wurde mir gar nicht genommen, denn wie sollte ich sonst die Liebe zu den Tieren spüren? Scheinbar dachte ich das nur, so wie auch der Garten die ganze Zeit grün und bunt leuchtete, ich es aber nicht sehen konnte. Ob ich tatsächlich ein Auge und ein Ohr und die Hände und Füße verloren hatte? Ich bin mir nicht mehr sicher. Die Krähe scheint von alledem nichts zu ahnen, sie hockt immer noch frei und friedlich auf meiner Schulter, so als ob sie kein Wässerchen trüben könnte. Aber sie ist und bleibt eine Krähe, mit all ihren Besonderheiten, und ich spüre tief, dafür liebe ich sie und somit auch mich.