Eine Frau, sie war hochgewachsen und schlank, hatte mit Henna rotgefärbtes langes Haar, das zu einem strengen Zopf zurückgebunden war. Ihre Augen waren sehr auffällig, sie waren manchmal braun und wenn sie sich sehr freute oder ärgerte, dann wurden sie grünlich. Ihr Blick wirkte klar und offen. Nora, so hieß die Frau hatte drei Kinder. Diese waren bereits erwachsen und nur noch selten bei ihr zu Hause. Der jüngste Sohn war gerade vor drei Wochen bei ihr ausgezogen. Noras Mann hatte sich schon vor Jahren von ihr getrennt, er hatte eine jüngere Frau ihr vorgezogen und Nora hatte in den vergangenen Jahren genug damit zu tun, für ihre Kinder und ihren Lebensunterhalt zu sorgen.

An einem diesigen Tag saß Nora auf ihrem Bett und bewegte sich kaum. Sie saß einfach da und spürte ihre Erschöpfung, die sich in jeder Zelle auszubreiten schien. Nach langer Zeit, es wurde bereits dunkel, stand Nora auf und ging zum Spiegel. Sie machte Licht an und erschrak vor ihrem eigenen Spiegelbild. Im Licht sah sie ihre müden Gesichtszüge noch deutlicher. Sie war äußerlich gesehen aus den sogenannten besten Jahren heraus, es war deutlich erkennbar. Sie schob ihr Gesicht ganz dicht an den Spiegel und schaute noch genauer hin. Die faltigen Lebensspuren waren um ihren Mund herum, besonders die Falten um die Nase erschienen ihr tief wie Gräben. Um die Augen machten sich ein paar Lachfältchen breit.

Langsam zog Nora ihren Pullover aus. Sie sah, dass sie zwar immer noch eine annehmbare Figur hatte, jedoch waren die Oberarme schlaff, ihr Busen wurde von dem BH gehalten, immerhin hatte sie drei Kinder gestillt. Ihr Blick glitt an ihrem Körper herunter. Der Bauch wirkte unförmig dick im Verhältnis zu ihrem restlichen schlanken Körper. Nora zog auch die Hose aus. Es war Zeit sich endlich anzusehen und wahrzunehmen und Bilanz zu ziehen.

Selten zuvor hatte Nora an sich selbst oder gar ihr Aussehen gedacht. Beinahe die ganze Aufmerksamkeit und Fürsorge galt in den letzten Jahren ihren Kindern. Ihr Blick ging ins Leere, sie war in Gedanken versunken. Sie erschrak, als ihr bewusst wurde, wie alt sie geworden war. Wo war die Zeit geblieben, was war aus ihren Träumen geworden, aus ihren früheren Wünschen? Sie schaute noch einmal auf ihr Gesamtbild, straffte die Schultern, schob die Brust nach vorn, zog ihren Bauch ein und lächelte sich selbst unbeholfen im Spiegel entgegen.

Nora zog sich einen Bademantel über und wusste nicht so recht, was sie anfangen sollte. Sie saß erst einmal auf ihrer Couch und wollte einen Film im Fernsehen anschauen, doch wie so oft, gab es nichts wirklich Gescheites. Unruhig stand sie wieder auf und ging in der Wohnung auf und ab. Sie schaute auf ihre ganzen, in den vergangenen Jahrzehnten angesammelten „Schätze“. Was würde davon übrigbleiben, wenn sie einmal nicht mehr unter den Lebenden sein würde? Würde eines ihrer Kinder überhaupt ahnen, was für eine große Bedeutung die rote Vase im Regal für sie hatte? Hatte sie sich überhaupt jemals ihren Kindern mitteilen können in den vergangenen Jahren? Sie wusste es nicht und wollte in dem Moment auch nicht weiter darüber nachdenken, somit ging sie schnell ins Bett, um noch schneller einzuschlafen.

Der Schlaf hielt nicht lange vor, mitten in der Nacht wachte Nora auf und konnte nicht wieder einschlafen. Die Unruhe, die sie bereits am Abend gespürt hatte, war wieder präsent. Sie stand auf, ging in die Küche und kochte sich einen Karokaffee. Was sollte sie machen?

Wie sollte ihr Leben weitergehen? Wollte sie so, wie sie bisher gelebt hatte, nur ohne ihre Kinder überhaupt weiterleben? Sie stellte alles in Frage und hatte zu guter Letzt das Gefühl, dass sie noch gar nicht wirklich gelebt hatte in ihrem bisherigen Leben. Doch wie sah das wirkliche Leben aus? Wo sollte sie anfangen etwas zu verändern? Sie wusste es nicht.

Spontan zog sie ihre Jeans und Pulli an und ging hinaus. Sie lief barfuß, dass hatte sie in der Stadt noch nie getan, seit sie erwachsen war. Langsam ging Nora, den Blick auf den Boden gerichtet, damit sie nicht in Glas treten würde. Es war ein eigenartiges Gefühl, die eigenen Füße wahrzunehmen. Manchmal war es sehr unangenehm, denn kleine Kiesel oder sonst etwas lagen auf dem Asphalt und quetschten sich bei jedem Schritt in Noras Fußsohlen.

Sie ging durch verschiedene Straßen und hörte, wie die Vögel zu zwitschern begannen. Die Vögel, sie bauten Nester, sie brüteten, brachten die Jungvögel zum Fliegen und das alles Jahr für Jahr. Trotzdem oder gerade deswegen zwitscherten sie umso schöner. Die Vögel waren zufrieden, wenn sie ihre Jungen satt und groß bekamen.

Nora überlegte, auch sie war die ganzen Jahre zufrieden gewesen. Auch sie sang wie die Vögel beim Kochen oder Waschen, bei den großen und kleinen Problemen ihrer Kinder, doch jetzt waren ihre Kinder flügge und sie würde nicht im nächsten Jahr wieder brüten wollen oder können, im Unterschied zu den Vögeln.

Ein spitzer Stein katapultierte sie aus den Tagträumen zurück in die Wirklichkeit. Wo war sie hier? Diese Gegend kam ihr völlig unbekannt vor. Sie ging vorsichtig zögernd und doch neugierig weiter.

Unter den Füßen waren keine Steinchen mehr zu spüren, sondern Grashalme lugten durch ihre Zehen. Was für ein zartes Gefühl unter den Fußsohlen, beinahe, als würden sie gestreichelt werden. Die Sonne schien auf Noras Kopf und der Wind umspielte sanft ihren Körper.

Nora ging weiter. Immer weiter, der Tag näherte sich beinahe wieder dem Ende entgegen. Sie wusste aber, dass sie auf dem richtigen Weg sein würde. Zwischendurch hatte Nora ihren Durst an einer Wasserquelle löschen können, dadurch fühlte sie wieder erfrischt.

Sie setzte sich auf einen Stein und schaute umher. Wie schön war doch die Natur und sie war ein Teil von ihr. Nora schloss ihre Augen und die Sonnenstrahlen strahlten durch ihre geschlossenen Augenlider hindurch und entzückt stellte Nora fest, dass alle Farben, die sie sich vorstellte, auch hervortraten. Ein wunderschönes leuchtendes Rot wurde von einem klaren Sonnengelb abgelöst. Türkis machte sich breit und in Gedanken hörte Nora die Wellen rauschen. Ihr wurde klar, dass alles was sie sich vorstellen würde, auch eintreten könnte, wenn sie daran glauben würde und davon überzeugt sei.

Schnell stellte Nora sich vor, sie sei ein Vogel und sie wurde ein Vogel. Sie flog durch die Lüfte und sang vor sich her. Anschließend stellte sie sich vor, sie wäre eine Eiche und ehe sie sich versah, wurde Nora eine Eiche. Sie war groß und erhaben und völlig geerdet, mit sich zufrieden. Doch bewegen konnte sie sich als Eiche nicht, somit wollte Nora lieber wieder sie selbst sein. Sie öffnete ihre Augen und fühlte sich voller Frieden. Sie war glücklich in diesem Moment und wusste, dass sie immer, wenn sie es wollte, in ihrem Inneren der Zufriedenheit begegnen könnte, auch wenn die äußeren Umstände nicht die besten sein würden.

Sie spürte plötzlich wieder einen spitzen Stein und den Asphalt unter ihren nackten Füßen und ihr wurde bewusst, dass sie soeben beim Nacktfussasphaltspaziergang ein Geschenk erfahren durfte. Alles was sie glaubte erlebt zu haben, erschien als ob sie es wirklich erlebt hätte. Lag da die Kunst des Lebens? In der Visualisierung, ja Manipulation der Denkweise und der Empfindungen oder aber lag die wirkliche Erfüllung woanders?

Nora ging in Gedanken versunken weiter. Nicht der Zustand durch die Tagträume brachte die Zufriedenheit, vielmehr die Fähigkeit sich hineinbegeben zu können, wenn sie es wollte. Nora fühlte sich mit sich verbunden wie noch nie und machte sich selbstbestimmt auf den Heimweg.

Wieder zu Hause wusste Nora, dass sie ihren Weg und ihre neue Aufgabe finden würde. Sie konnte ja sogar fliegen, wenn sie wollte und Durst löschen mit Wasser aus Quellen, die nur in ihrem Inneren flossen.

Nora öffnete ihre rotgefärbten Haare und ließ den strengen Zopf durch ihre Finger gleiten. Sie schüttelte ihren Kopf hin und her und spürte, dass es keinen Halt mehr für sie geben würde. Ähnlich wie das soeben geöffnete Haar, das mit Sprungkraft und Hingabe durch ihre Hände glitt, würde sie in ihr eigenes, selbstbestimmtes, wenn auch schon etwas faltiges Leben schreiten.

Der Blick fiel erneut auf die rote Vase, die Nora noch vor ganz kurzer Zeit so wichtig erschien. Diese rote Vase, die bisher einer ihrer wichtigsten Schätze war. Sie wusste plötzlich, dass sie diese verschenken würde. Ihre an diesem Tage grünlichen Augen spiegelten sich in dem Rot und Nora erkannte in der Vase und durch die Vase ihre wirkliche Schönheit.