Das Teufelchen

 Verschiedene Wohnhäuser standen um einen Garten herum. Es lebten darin viele verschiedene Menschen. Mitten in dem Garten lebte ein kleines Streit-Teufelchen. Es hatte die Figur eines Granatapfels mit winzigen, kurzen Ärmchen und Beinchen. Seine Farbe war meistens rot. Manchmal aber, wenn es sich sehr freute, lilafarben.

Das Teufelchen lebte im Sommer unter den vielen Büschen in diesem Garten, und im Winter, wenn es draußen zu kalt für das Wesen wurde, bei den Menschen in den Häusern. Niemand wusste von dem Teufelchen. Keiner hatte es bisher gesehen. Das Teufelchen war gewandt, witzig und hatte die tollsten Ideen. Vor allen Dingen, wie es die Menschen dazu bewegen konnte, sich untereinander und miteinander zu streiten. Manchmal sah es beinahe gefährlich aus, so, wie es sich für ein Teufelchen gehörte. Aber sehen konnte es niemand.

Eines schönen Tages hatte das Teufelchen so rein gar nichts auszuhecken. Viele Bewohner waren fort, denn die Sonne schien vom blauen Himmel. Das Streit-Teufelchen überlegte intensiv, wie es denn nun wieder einmal etwas Schreckliches anstellen könnte, damit es endlich einmal erneut die Freuden-Farbe Lila bekommen würde. So lange schon war das Teufelchen rot, und das fand es fad und öde. Es saß im Gras und überdachte die letzten Streitereien vor ein paar Tagen im Wohnblock A. Dort wohnte Familie Nolde, ein älteres Ehepaar, das sich ständig untereinander stritt, und das ganz und gar ohne das geringste Mitwirken des Teufelchens. Gegenüber im Treppenhaus lebte Familie Harnisch, bestehend aus einer alleinerziehenden Mutter mit ihrem Sohn Hermann. Die beiden Familien hatten immer wieder Streit, seit das Teufelchen dort eingezogen war. Dabei hätten sich die beiden Frauen ohne das Teufelchen und seine Freude, Streitereien zu entfachen, sich sicherlich sogar sehr sympathisch gefunden oder sogar gerne gemocht.

Auf jeden Fall trug es sich vor ein paar Tagen folgendermaßen zu: Frau Nolde putzte das Treppenhaus sehr gründlich. So, wie es sich für eine gute Mieterin gehörte. Frau Nolde schloss gerade die Tür hinter sich und freute sich auf eine genüssliche Tasse Kaffee, die ihr Mann manchmal bereits sogar aufgegossen hatte, wenn die beiden nicht gerade wieder miteinander im Streit lebten.  An diesem besagten Tag hatte Frau Nolde guten Grund, auf duftenden Kaffee zu hoffen. Sie schloss also gerade die Tür auf und wollte Eimer und Schrubber wegstellen, als die untere Treppenhaustür zuschlug, und das mit einem sehr, sehr lauten Knall. Vor Schreck riss Frau Nolde ihre Wohnungstür wieder auf, und ihr Mann, der neugierig angesprungen kam, blickte mit ihr in das Treppenhaus. Herr Nolde fing seine nun wankende Frau im allerletzten Moment auf, beinahe wären sie beide umgefallen. Und durch einen Schritt zur Seite kippte der noch gefüllte Eimer um, und das schmutzige Wasser ergoss sich im Flur. Nun stritten Herr und Frau Nolde umso mehr, und als sie während ihres Streits trotzdem in das Treppenhaus schauten, stellten sie fest, so etwas hatten sie noch nie gesehen und erlebt, das Treppenhaus war vollgeschmiert mit Marmelade! Sofort dachte Frau Nolde an die Nachbarsfamilie Harnisch.

Rot vor Zorn, dabei aber still und schweigend, wischte sie alles weg, ohne nebenan zu klingeln. Das brauchte so viel Zeit, und der von ihrem Mann aufgegossene Kaffee duftete nicht mehr, kalt stand die volle Tasse da, und kalten Kaffee trank Frau Nolde gar nicht gerne.

Aber wie sagte man? Erfahrungen machen klug, und aus Erfahrung wusste Frau Nolde, dass sie ohne Ärger zu machen, ohne bei Harnischs zu klingeln, ihre Kaffeegelüste schneller würde stillen können. Nach erneut getaner Arbeit wollte Frau Nolde also gerade die Tür schließen, als ein lauter Knall folgte.

Empört riss Herr Nolde die Wohnungstür auf. Dabei stieß er sich in der Eile seinen Kopf, und die entstehende Beule schmerzte, doch natürlich zeigte er es nicht. Dieses Mal war die ganze Fensterleiste voller Honig, und die Fenster dunkelrot und vollgeklatscht mit Marmelade. Es könnte Erdbeermarmelade oder auch Kirschkompott gewesen sein. Wütend klingelte Herr Nolde bei der gegenüberwohnenden Familie. Unbedarft öffnete Frau Harnisch, sie hörte gerade Musik mit Kopfhörern, die sie sehr verwundert abnahm, als sie den tobenden Herrn Nolde sah. Der allergrößte Streit seit Monaten entfachte zwischen ihnen. Natürlich stritt Frau Harnisch alles ab, was ihr und besonders ihrem Sohn Hermann nun vorgeworfen wurde.  Hermann war nicht zu sehen, weil er gar nicht zu Hause war. So ging es eine ganze Weile zwischen den Nachbarn hin und her mit sehr bösen und sehr lauten Worten und Stimmen, die teilweise kreischten und nicht mehr als Worte hörbar waren, weil die Stimmen sich überschlugen.

Das Teufelchen saß währenddessen freudig lilascheinend auf der Kellertreppe und sonnte sich im für dieses Wesen wunderbaren Streit. Nachdem im Treppenhaus Ruhe eingekehrt war, lauerten Frau Nolde oben und Herr Nolde unten abwartend über viele Stunden. Kalt war beiden, und von Kaffee konnte Frau Nolde nur noch träumen.

Doch nichts passierte. Aber Frau Nolde sah, dass Hermann von seinem Vater nach Hause gebracht wurde. Frau Nolde hatte ganz vergessen, dass Hermann seine Ferien bei seinem Vater verbrachte. Also konnte Hermann es auf keinen Fall gewesen sein. Aber wer könnte es dann gewesen sein? Natürlich kam niemand dahinter, so sehr die Noldes und Harnischs auch hin- und herüberlegten …

Nun saß also das Teufelchen im Garten und überlegte, wie es wieder einmal mit den wenigen anwesenden Bewohnern Streit “herbeizaubern” könnte. Doch dem Teufelchen fiel nichts mehr ein, es hatte zu viel in der letzten Zeit angestellt. Somit saß es den ganzen Nachmittag im Garten herum und hoffte auf einen erneuten Einfall.  Zu böse Streiche wollte es auch nicht machen, da die Bewohner und Bewohnerinnen nicht wieder ausziehen sollten wie vor ein paar Jahren, als das Teufelchen noch woanders gelebt hatte. Letztlich blieb es nämlich völlig allein in riesigen Mietshäusern zurück. Dort hatte das Streit-Teufelchen es geschafft, dass niemand mehr persönlich mit einem Nachbarn sprach, wohl aber hinter den Rücken der anderen. Es gab oft leidvolle Tränen in den verschiedenen Häusern, die rundherum um den Garten standen. Damals leuchtete das Teufelchen lilaglücklich.

Angestrengt dachte es nach. So verging die Zeit, erst ein paar Stunden, dann einige Tage, und schließlich viele Jahre. Irgendwann wurde es in den Häusern auch etwas ruhiger und friedlicher unter den Bewohnern, nie aber freundschaftlich, dafür hatte das Teufelchen in den Jahren zuvor bestens gesorgt. Es vergingen so viele Jahre, dass aus dem Jungen ein junger Mann geworden war. Hermann hatte sogar schon eine feste Freundin. Und oft lachten die beiden für alle Nachbarn hörbar.

Das Teufelchen konnte dieses Lachen nicht ertragen. Dunkelrot hockte es seit Jahren ohne Idee, wie es weiteren Streit fabrizieren könnte. Plötzlich blitzte dem Teufelchen eine Idee auf, es würde Hermann und seine Freundin zu einer Trennung bringen. Das würde ein Lila-Spaß werden! Wie das Teufelchen es schaffte, dass die beiden sich trennten, soll sein Geheimnis bleiben. Diese Trennung schmerzte so sehr alle, die es betraf. Hermann hockte nur noch tief- traurig in seinem Zimmer, ganz egal, was das Streit-Teufelchen auch anstellte oder versuchte.

Egal, was für Einfälle dem Teufelchen kamen, Hermann reagierte auf gar nichts mehr.

Er wurde immer dünner, und kaum konnte das Teufelchen Hermann noch erkennen. Und auch die Mutter und Hermann stritten gar nicht mehr, diese Stille machte das Teufelchen unruhig, und es wurde unsicher und danach selbst traurig. Sogar das Rot verschwand langsam, es wurde immer blasser, so einen Zustand gab es zuvor niemals.

Mehrmals zog das Teufelchen an Hermanns Haaren, ohne jegliche Reaktion. Dann sprach das Teufelchen Hermann an, doch nicht einmal das beachtete der junge Mann.

Das Streit-Teufelchen machte sich auf den Weg zu Hermanns Ex-Freundin, die ebenfalls traurig aus ihrem Fenster schaute. Der sehr verdutzten jungen Frau erzählte das blassrosa Teufelchen die ganze Wahrheit. Es überredete die Frau mitzukommen, und so gingen beide zu Hermann. Das Ex-Liebespaar sprach über alles und stellte alles richtig, und nachdem sie feststellen konnten, dass alles gar nicht so war, wie es schien, vertrugen sie sich mit einer dicken Umarmung. Das Glück strahlte aus ihren Gesichtern.

Das Streit-Teufelchen wurde alsbald wunderschön lila, so lilafarben wie noch niemals zuvor.   Darüber staunte es sehr. Dieses Wesen hatte schon seit geraumer Zeit erkannt, dass es auch überall in der Welt und sogar ohne sein Dazutun genug Streitereien gab. Einiges hörte es im Garten oder den Wohnhäusern rundherum. Und wenn es genau lauschte, dann hörte das Streit-Teufelchen so viel Streit in der Welt, dass es kein Streit-Teufelchen mehr sein wollte.  Wirkliche Anteilnahme und Liebe unter den Menschen gab es viel zu selten. Somit wechselte das Streit-Teufelchen alsbald seinen Beruf und änderte seinen Namen.

Ab dem Tag lebte nun unter den Menschen zwar dasselbe Wesen, aber mit einem anderen Namen und mit anderen Wünschen und Ideen. Es brachte keinen Streit mehr unter die Menschen, sondern half diesen, sich gut zu verstehen, und versteckte liebe Worte oder kleine Dinge, die alle Herzen erfreuten. Den Namen kannst du dir vielleicht denken, ich weiß ihn, denn ich wohnte in einem der Häuser, von denen ich hier erzählte.

1993 aus meinem „Potpourri“